Reportage

Für viele eine Königsdisziplin: die Reportage

Die Reportage ist eine der Königsdisziplinen unter den Journalisten. Das Merkmal dieser oft langen Texte ist die Lebendigkeit. Perspektivenwechsel, Ortswechsel und die Gefühle des Autors ergänzen die sachlichen Informationen. Gut geschriebene Reportagen fesseln den Leser vom Anfang bis zum Ende, daher kann man nicht wie bei der Nachricht von einem Lead-Stil sprechen. Für eine Reportage ist der Autor immer vor Ort und reflektiert die Ereignisse, die ihm während seiner Recherche widerfahren sind. Wichtig ist, dass der Reporter immer mit mehreren Akteuren spricht, um Konflikte oder Kontroversen richtig einschätzen zu können.

 

Textbeispiel Reportage:

 

Meister im Abschleppen

Das Familienunternehmen Josef Eichenseher ist Münchens größtes und ältestes Abschleppunternehmen. Das Oktoberfest ist für die 50 Angestellten die stressigste Zeit überhaupt. Über 600 Falschparker müssen jedes Jahr rund um die Theresienwiese huckepack genommen und weggebracht werden.

 

Denise Eichenseher muss den Kopf nur leicht zur Seite drehen, um den bunt blinkenden Bildschirm auf ihrem Schreibtisch zu sehen. Der neue Auftrag für das Abschleppunternehmen Eichenseher wird akustisch zusätzlich von einem grellen Ton untermalt. Noch bevor die 26-jährige Tochter des Firmenchefs zum Fax gegangen ist, spuckt das Gerät die Details aus. Auffahrunfall in Obersendling, keine Verletzten, Polizei vor Ort. Per Handy wird Fahrer Pascal in das Büro an der Implerstraße geholt. „Ruf an, wenn du fertig bist“, sagt Denise noch, dann klingelt und blinkt es schon wieder.

 

Während sich Pascal mit dem zwölf-Tonnen schweren Abschleppwagen elegant in den fließenden Verkehr auf der Implerstraße einfädelt, disponieren die Mitarbeiter im Büro des Familienunternehmens schon die nächsten Fälle, die von der Polizei und dem ADAC stetig eintrudeln. In dem niedrigen gelben Haus, gleich bei der Münchner Großmarkthalle, geht es hektisch zu.

 

„Wir fahren im Jahr 35 000 Aufträge“, sagt Werner Eichenseher. Um das zu bewältigen, ist das Drei-Mann-Unternehmen, das sein Vater 1961 gegründet hatte, zu einer 50 Mitarbeiter starken Firma gewachsen. Und aus dem einen Abschlepper wurden 42. Früher wären so viele Abschleppaktionen wie jetzt während des Oktoberfests nicht machbar gewesen. „Mein Vater und ich mussten uns unter jedes Auto legen, das wir abgeschleppt haben“, erinnert er sich. Außerdem hatten sie immer eine alte Matratze dabei, damit die Autos nicht verkratzten. Die zwei Tonnen schweren Autos wurden per Hand auf die Ladefläche gekurbelt. Heute sind die Schlepper per Knopfdruck zu bedienen. Dass die meisten denken, seine Männer schleppten rund ums Jahr hauptsächlich Falschparker ab, amüsiert Eichenseher. „Nur während der Wiesn steigt die Zahl der Falschparker an, dann haben wir während der drei Wochen über 600 abgeschleppte Autos.“ Extrem stressig sei das schon, aber eben auch nur für die drei Wochen.

 

Pascal ist inzwischen bei dem Auffahrunfall angekommen. Eine Frau läuft aufgeregt winkend auf den großen gelben Schlepper zu. Ihr Auto steht quer auf der Spur. „Das ist der Wagen! Ich habs so eilig, dann dies und jetzt ist auch noch mein Handyakku leer“, sagt Eva. Quer über die Straße verläuft eine breite Kühlwasserspur. Vor ihr habe der Fahrer plötzlich gebremst. Pascal schaut kurz auf das äußerlich leicht demolierte Auto. „Nur gut, dass mein Mann so ruhig war, der meinte, Hauptsache mir ist nichts passiert“, fügt die zweifache Mutter noch hinzu. Pascal fährt den Wagen einen halben Meter Richtung Abschlepper und bockt ihn mittels eines Knopfes auf. 60 Sekunden, fertig. Während Pascal ölbindendes Pulver auf die Straße kippt und zusammenkehrt, reicht ein Polizist Eva ein rosa Papier. „Jetzt muss ich Ihnen noch die Verwarnung geben. 35 Euro“, so der Beamte. Eva hält das Knöllchen in der Hand, zuckt die Schultern. „Bitte binnen einer Woche überweisen“, sagt der Polizist noch und fährt ab. Wofür das war? „Wahrscheinlich, weil ich einen Unfall gebaut habe“, so Eva. Als die Münchnerin das Abschleppformular unterschreibt, fragt sie Pascal, wie er den Schaden einschätzt. „Das ist nicht zu schlimm.“ Die Frau strahlt auf. „Ich könnte Sie küssen und umarmen.“ Dann ruft sie „Tschüss“ und rennt in Richtung U-Bahn.

 

Früher, erzählt Werner Eichenseher, da konnte man noch viel selber an den Autos reparieren. Das war einmal. Inzwischen arbeiten nicht mehr nur Mechaniker und LKW-Fahrer für ihn, sondern auch Mechatroniker und Elektrikermeister und gerade habe er den vierten mobilen Diagnosecomputer angeschafft. Außerdem hat er das Bezahlungsmodell für seine Mitarbeiter umgestellt. „Das bringt meine Mama, die die Lohnabrechnung macht, zwar drei Tage pro Monat um den Verstand, aber ich finde es fairer.“ Neben einem Grundgehalt werden die Fahrer nach Einsatz und Schichten bezahlt.

 

In seinem Führerhaus, hoch über den anderen Autos, ist der 34-jährige Pascal am liebsten. Mit dem verbeulten Wagen fährt er huckepack zum Autohändler. „Die Frau stand unter Schock, die bekommt erst heute Abend richtig mit, dass sie einen Unfall hatte“, sagt er wissend. Vor sieben Jahren ist Pascal aus Italien nach München gekommen. Seitdem arbeitet er bei der gleichen Firma, in der auch schon sein Bruder angestellt war. „Schlimm ist es nur, wenn jemand verletzt wurde, alles andere kann man reparieren“, sagt er und lächelt. Jedes Jahr kommen bei ihm rund 60 000 Kilometer Erfahrung dazu.

 

Werner Eichenseher hat vor wenigen Monaten ein weiteres Büro und eine Lagerhalle in Freiham eröffnet. Ganz umziehen wird der Betrieb nicht, dazu ist die Lage an der Großmarkthalle zu zentral und zu bekannt. „Aber man muss ja mit der Zeit gehen“, sagt Eichenseher und sieht für einen kurzen Moment müde aus. Seine älteste Tochter Denise arbeite schon fest in der Firma mit. Die Nachfolge sei also geregelt. Dann beugt er sich über den Schreibtisch, grinst und sagt: „Wissen Sie, ich bin schon auch ein guter Geschäftsmann, aber meine Tochter, die hat`s so richtig drauf, die ist in manchen Punkten sogar besser als ich.“ Ans Aufhören denkt der 55-Jährige aber trotzdem nicht. „Ich hätte schon gerne mehr Zeit für meine Familie.“ Aber? „Aber dafür bin ich viel zu sehr Perfektionist.“

 

Jennifer Bligh