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Medienpolitik | 04. Juli 2025
Berichterstattung in Ausnahmesituationen: Sorgfalt statt Sensationslust

Vor Kurzem hat der Amoklauf an einer österreichischen Schule mit mehreren Todesopfern die Öffentlichkeit erschüttert. Gewaltverbrechen dieser Tragweite stellen Journalistinnen und Journalisten vor eine besondere Verantwortung – und die Medienethik auf den Prüfstand. In der akuten Phase eines solchen Ereignisses ist das Bedürfnis der Gesellschaft nach Informationen verständlicherweise groß. Umso wichtiger ist es, dass Medienschaffende in diesen Momenten besonnen, sorgfältig und ethisch verantwortungsvoll berichten. Gerade zu Beginn sind die Abläufe häufig unübersichtlich, Faktenlage und Hintergründe unklar. Die Gefahr, dabei journalistische Standards zu verletzen und moralische Grenzen zu überschreiten, ist hoch.

Konkurrenzdruck durch soziale Medien

Eine zunehmende Herausforderung für den seriösen Journalismus besteht darin, dass soziale Medien in Echtzeit und oft ungefiltert Inhalte verbreiten – darunter auch Amateurvideos sowie spekulative und nicht verifizierte Informationen. Boulevardmedien greifen diese Inhalte mitunter schnell auf, um ihre Reichweite zu erhöhen. Dadurch entsteht auch für Qualitätsmedien ein erheblicher Konkurrenzdruck: Wer sich an ethische und rechtliche Standards hält, läuft Gefahr, als „langsamer“ oder „zurückhaltender“ wahrgenommen zu werden.

Ein Blick auf die jüngste Berichterstattung rund um den Amoklauf in Graz verdeutlicht dies beispielhaft: Reißerische Bilder und Videos der Tat kursierten unmittelbar in sozialen Netzwerken – und wurden von einzelnen Medien unreflektiert aufgegriffen. Betroffene, teils schwer traumatisierte Menschen, wurden bedrängt, Nachbarinnen und Nachbarn des mutmaßlichen Täters ausgefragt, wie etwa ein Bericht in den Übermedien aufzeigt. Über mögliche Motive wurde spekuliert, noch bevor gesicherte Informationen vorlagen. Furchtbare Bilder und dramatisch verpackte Aussagen von unter Schock stehenden Menschen bringen Aufmerksamkeit – und somit oft Profit – über ethische und mitunter rechtliche Grenzen hinaus.

Journalistische Sorgfalt braucht Zeit

Dem gegenüber steht der Anspruch journalistischer Sorgfalt: Sie prüft, kontextualisiert und schützt Betroffene. Und das braucht Zeit. Die Geschwindigkeit sozialer Netzwerke darf jedoch nicht zur Messlatte für Qualität werden. Die Antwort auf ungefilterte Echtzeitinhalte kann nicht darin bestehen, diese nachzuahmen oder gar zu übernehmen. Vielmehr muss glaubwürdig, transparent und nachvollziehbar berichtet werden. Leserinnen und Leser müssen erkennen können, warum bestimmte Inhalte nicht veröffentlicht werden – aus Verantwortung heraus, und nicht, um ihnen diese vorzuenthalten.

Diese Haltung zahlt sich langfristig aus: Studien wie der Reuters Digital News Report zeigen, dass Menschen in Deutschland etablierten Qualitätsmedien deutlich mehr Vertrauen in Hinsicht auf die Glaubwürdigkeit der verbreiteten Informationen entgegenbringen als solchen aus sozialen Netzwerken wie TikTok oder X. Dieses Vertrauen ist ein hohes Gut. Es basiert nicht auf Schnelligkeit oder Dramatik, sondern auf Glaubwürdigkeit, Einordnung und ethischer Integrität.

Regeln für verantwortungsvollen Journalismus

Doch was muss verantwortungsvoller Journalismus somit auch in Ausnahmesituationen leisten?

In der Folge hierzu einige wichtige Grundregeln:

• Verzicht auf Sensationalismus

Insgesamt muss die Berichterstattung von einer respektvollen Darstellung und Sprache geprägt sein. Das heißt, dass alle journalistischen Texte – von der Überschrift über die Teaser bis zu den Meldungen und Berichten – sorgfältig formuliert werden müssen.

• Schutz der Persönlichkeitsrechte, Wahrheit und Menschenwürde

Journalistische Standards fordern den Schutz der Persönlichkeitsrechte ebenso wie der Wahrheit und der Menschenwürde. Auch das Strafgesetzbuch (§ 201a StGB) verbietet das Verbreiten von Bildaufnahmen, die den höchstpersönlichen Lebensbereich verletzen. Dazu gehören Fotos, „die die Hilflosigkeit einer anderen Person“ zur Schau stellen. Auch bei Beerdigungen oder Gedenkveranstaltungen darf es ohne Einwilligung keine Aufnahmen von Trauernden geben.

• „Werther-Effekt“ bei Täterdarstellung – Nachahmung vermeiden

Die journalistische Aufarbeitung von Amokläufen birgt die Gefahr, Imitationsseffekte zu erzeugen. Die Forschung zeigt: Unreflektierte Berichterstattung über Täter kann Nachahmungstaten begünstigen. Man spricht vom sogenannten „Werther-Effekt“, der die Nachahmung von medial verbreiteten Suiziden in der Gesellschaft und damit einhergehend einen Anstieg der Suizidrate bezeichnet. Nachahmung wird auch bei Amokläufen als Gefahr eingestuft. Um dem entgegenzuwirken, sollte auf die Veröffentlichung von Täterfotos oder detaillierte Tatbeschreibungen verzichtet werden. Es gilt, jede Form von Täterinszenierung, reißerische Begriffe und somit indirekte Glorifizierung zu vermeiden.

• Nach der Tat: Hilfestellung zu Prävention und Aufarbeitung

Langfristig bedeutet die Berichterstattung über unfassbare Gewalttaten auch, über Hilfsangebote, psychologische Betreuung, Schulprojekte oder Präventionsarbeit zu berichten. Die eigene Reflexion oder der Beitrag zu gesellschaftlichen Diskursen wie zu Ursachen, Rolle von Medien, Radikalisierung oder Waffenverfügbarkeit sind möglich – jedoch auch hier ohne Täteridealisierung und ohne komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen.

Sorgfalt und Verantwortung lohnen sich

Sensationsgier darf somit auch und gerade in Ausnahmesituationen nie über den Schutz von Menschen gestellt werden. Namen von Opfern, ungeprüfte Aussagen oder Tätervideos dürfen zudem nicht leichtfertig veröffentlicht werden. Dies gilt sowohl aus rechtlicher Sicht als auch aus Respekt gegenüber den Betroffenen und entspricht der gesellschaftlichen Verantwortung des Journalismus. Der Schutz von Minderjährigen, Trauernden und traumatisierten Menschen ist besonders ernst zu nehmen.

Statt emotional aufgeladener Bilder und spekulativer Narrative braucht es vielmehr gründlich recherchierte und kontextualisierte Berichterstattung. Verantwortungsvoller Journalismus bedeutet, aufzuklären und zu informieren – nicht zu inszenieren und zu traumatisieren. Und: Ethisch fundierter und rechtlich abgesicherter Journalismus lohnt sich, wie das in Studien belegte hohe Vertrauen der Menschen in durch Qualitätsjournalismus gesicherte Informationen zeigt.

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